Man sagt, Wissen ist Macht. Aber manchmal ist Unwissen… einfach angenehmer. Vielleicht sogar gesünder. Denn wer mit offenen Augen durchs Leben läuft, wird über kurz oder lang über Dinge stolpern, die er lieber nicht gesehen hätte: den Kontostand nach dem Urlaub, das Gewicht nach Weihnachten oder die Google-Suchanfrage »Was kostet ein Zahnersatz?« nach einem Popkorn-Unfall.
In einer Welt, in der Informationen jederzeit verfügbar sind, ist es fast eine rebellische Heldentat, nichts wissen zu wollen. Nicht, weil man dumm ist. Sondern weil man klug genug ist zu erkennen: Diese Info wird meine Stimmung nicht verbessern.
Bewusste Ignoranz – also verfügbare Informationen werden mit voller Absicht nicht abgerufen – das ist nicht das Gegenteil von Intelligenz, sondern manchmal ihre letzte Verteidigungslinie. Wer klug ist, weiß, wann es besser ist, sich dumm zu stellen. Zum Selbstschutz. Zum Seelenfrieden. Und manchmal, weil man sich lieber über eine Ahnung freut als über eine Gewissheit ärgert.
Also los: Zehn Situationen, in denen wir uns ganz bewusst nicht informieren – und das verdammt gut so ist.
Die Waage: Der Feind mit Display
Sie steht da. Silberglänzend, mit Glasplatte und einem rot leuchtenden Display. Digitale Präzision und gnadenlose Ehrlichkeit in einem. Die Badezimmerwaage. Und du? Du tappst morgens verschlafen ins Bad, blickst auf das Gerät – und entscheidest dich: Heute nicht, du Stimmungskiller.

Denn du weißt, was sie sagen würde. Sie würde piepen, blinken (bitte nicht in Gruppen betreten!), rechnen, und dann eine Zahl ausspucken, die exakt so viel wiegt wie dein Selbstwertgefühl. Warum solltest du dir das antun? Die Pizza gestern war super! Und der Wein gehört nunmal dazu. Oder das Weizen. Du bist kein Gewicht. Du bist eine Persönlichkeit mit Schwächen – und Käse!
Bewusste Ignoranz bedeutet hier: Ich gehe nicht drauf. Ich schaue sie nicht mal an. Vielleicht morgen. Vielleicht nie. Weg damit!
Kontostand? Ich fühl mich reich, also bin ich’s
Amazon schlägt dir noch einen Ratgeber für Sketchnotes vor, obwohl du bereits einen Sommerroman und den neuesten Thriller von Freida McFadden im Warenkorb hast. Ein Hoch auf den Alogrhythmus. Dabei flüstert eine Stimme in deinem Kopf: »Brauchst du den wirklich? Denk mal an deinen Kontostand. Willst du nicht kurz draufschauen?«
Antwort: NEIN.
Warum? Weil du das Prozedere »Onlinebanking nach dem Urlaub« bereits zu oft durchgespielt hast. Es fühlt sich an wie barfuß am Tischbein hängen bleiben.
Bewusste Ignoranz in Sachen Finanzen ist keine Faulheit. Es ist Selbstfürsorge. Was du nicht weißt, macht dich nicht arm. Es macht dich einfach ein bisschen… schwebend. Finanziell unklar, emotional stabil. Allerdings nur kurzfristig.

Kühlschrank: Wenn sich der Deckel wölbt
Da ist diese Tupperdose ganz hinten im Kühlschrank. Du kennst sie. Sie kennt dich. Du hast sie letzte Woche hineingestellt… und dich entschieden, sie heute auch wieder nicht zu öffnen. Passt nicht zum geplanten Mittagessen. Eine Woche später entdeckst du eine gefährliche Wölbung des Deckels. Was hatte ich nochmal eingetuppert und was zur Hölle ist daraus geworden? Ein neues Leben? Ein schimmeliger Bio-Versuch? Eine geronnene Erinnerung an dein misslungenes Meal Prep?
Du hast einen Plan: Ab damit in den Mülle – ungeöffnet. Es gibt Dinge, die will man einfach nicht sehen. Und nein, es war kein echtes Tupper sondern eine billiger Nachbau.
Nachrichten: Heute nicht!
Du hattest einen tollen Tag. Du warst spazieren mit dem Hund. Die Sonne scheint immer noch. Die Wohnung ist geputzt und die Bügelwäsche geglättet im Schrank. Vielleicht hast du gerade erfahren, dass du 12 Kisten Krombacher bei einem Gewinnspiel gewonnen hast. Wer weiß?
Du setzt dich mit einem kühlen Getränk auf die Dachterrasse und klappst deinen Rechner auf. Bild.de ploppt auf (ja, ich weiß …) und du überlegst kurz: Vielleicht Nachrichten lesen?

FALSCH. Denn innerhalb von fünf Minuten erfährst du, dass der Typ mit den orangenen Haaren wieder alternative Wahrheiten anbietet. Oder willst du wissen, was P. Diddy mit einem aufblasbaren Kinderpool voller Babyöl in einem Hotelzimmer veranstaltet? Interessiert es dich in diesem Moment wirklich, dass die Welt brennt, die Rente unsicher ist und ein Asteroid vielleicht einschlägt? Und zack: Dein inneres Wetter kippt. Von Sonnenschein auf Weltuntergang.
Bewusste Ignoranz hier bedeutet: Heute nicht. Heute bleibt das Herz heiter. Die Welt geht vielleicht unter – aber nicht in meinem Kopf. Noch nicht.
Zahnschmerz: Hoffen statt bohren
Es beginnt ganz harmlos. Ein dumpfes Ziehen im Backenzahn. Könnte eine Entzündung sein. Könnte aber auch… Stress. Das kalte Wasser von eben. Oder die zu harte Zahnbürste, das Wetter oder der Jupiter in Kollision mit Merkur während der Mondfinsternis.
Dein logischer Verstand flüstert: »Ruf beim Zahnarzt an, bevor es schlimmer wird.« Dein inneres Kind schreit: »NEIN, ich will nicht!!!« Denn du weißt, was folgt: O-Ton: »Eieiei, das sieht aber gar nicht gut aus.« Oder noch besser: »Warum kommen Sie denn erst jetzt? Vor drei Wochen hätten wir den Zahn noch retten können«. Dem folgen Betäubungsspritzen, Bohrgeräusche, Behandlungszimmer mit Geruch nach – ich weiß nicht was – und Zahnarzt-Smalltalk mit offener Schnute.
Also wählst du den Weg des »Ich beobachte das mal noch ein bisschen«. Tagelang kaust du nur links, nimmst Mini-Schlucke kaltes Wasser, als wär’s Säure, und hoffst, der Zahn beruhigt sich von allein – nach Regen folgt Sonnenschein.

Bewusste Ignoranz mit leichtem Risiko – aber hey, solange du noch lachen kannst, ist alles gut. Auch wenn’s nur halbseitig ist.
Der graue Briefumschlag am Freitag – der Stimmungskiller deluxe
Freitag, der Postbote hupt (die Haustür steht auf, das bedeutet, unser Hund ist draußen irgendwo). Du nimmtst freundlich die Post an der Autotür entgegen. Unter anderem einen grauen, offiziellen Briefumschlag. Absender klein oben im Fenster. Dick. Schwer. Mit Aura.
Du weißt sofort: Das ist kein Gutschein. Keine Fanpost. Kein Liebesbrief. Das ist Bürokratie in Papierform. Finanzamt? Krankenkasse? GEZ? Jobcenter? Antrag auf Kindergeld abgelehnt, weil die Nummer XY fehlt? Schlimmer: Die Renteninformation?

Und trotzdem – oder gerade deshalb – schiebst du ihn zur Seite wie Oliven im Salat. Heute nicht. Du legst ihn unter eine Zeitschrift. Oder in DIE Schublade in der Küche. Oder zur Tupperdose hinten im Kühlschrank.
Denn hier schützt bewusste Ignoranz dein Wochenende. Der Brief läuft ja nicht weg – leider!
Die Erdbeertorte – trotz klarem Menschenverstand
Du weißt, du verträgst keine Erdbeeren. Jedenfalls nicht zu viele. Aber dann steht sie da. Frisch, saftig, mit Sahne. Ein Kuchen wie aus der Werbung. Und dein Körper flüstert: »Tu es nicht.« Dein Appetit steuert dagegen: »YUMMY!«
Du greifst zu. Mit Anlauf. Ein riesiges Stück, extra Sahne. Denn du willst das Geschmackserlebnis – nicht die Folgen. Zum Beispiel juckende Mundwinkel … Also blendest du aus, was du längst weißt. Bewusste Ignoranz mit Sahnehaube. Ein Klassiker.

Und ja: Später liegst du auf der Couch, kühlst mit Eiswürfeln, jammerst – und denkst: War trotzdem geil.
Der Beziehungsstatus auf Social Media
Du hast dich frisch getrennt oder wurdest verlassen. Aua. Und natürlich willst du wissen: Was macht die andere Person? Aber gleichzeitig willst du’s auch nicht wissen. Weil du weißt: Die Wahrheit wird nicht nett sein. Trotzdem schwebt der Stalking-Gedanke über dir: »Hat er/sie schon jemand Neues? Geht’s ihm/ihr gut? Hat er/sie sich verändert?«
Du öffnest Instagram… tippst den Namen ein … und lässt es. Ganz bewusst. Denn ein bisschen Hoffen ist besser als sicher enttäuscht sein.
Bewusste Ignoranz ist hier emotionale Erste Hilfe. Du weißt genug, um zu wissen: Mehr Wissen wäre eine schlechte Idee. Und nein, ein Fake-Account ist keine Lösung. Also meistens.
Autogeräusch? Radio lauter – Problem kleiner
Zusammen mit deiner Tochter kommst du aus dem Kurzurlaub von Langeoog zurück. Als ihr in Bensersiel den Wagen starteten wollt, blinkt die Ölleuchte auf – kein Drama. Dann fahren wir bis zur nächsten Tanke und gut – die war allerdings 40 Kilometer entfernt. Egal. Es war Sonntag und ihr wollt nach Hause.
Doch dann erscheint er: der Tankwart. Mit einem Lächeln, das irgendwo zwischen »hilfsbereit«, »mir ist gerade langweilig« »sieh mal an, zwei Blondies mit einem Problem.« liegt. Er mustert euch und fragt: »Wisst ihr überhaupt, wo der Ölpeilstab sitzt?«. Selbstverständlich werden wir geduzt. Deine Tochter und du schaut euch an und nickt selbstbewusst, während du gerade überlegst, wo der Hebel für die Motorhaube sitzt.

Er zieht den Stab wie Excalibur aus dem Motorblock, wischt ihn mit einem Lappen ab, als wolle er dir die hohe Kunst der Motor-Meditation vorführen, und erklärt heldenhaft: »So kontrolliert man den Ölstand.« Danke für die Lektion – aber wir wollten eigentlich nur nach Hause. Also: Öl rein, Motor an, weiter geht’s. Es klappert zwar noch, aber fährt. Ihr wollt schließlich nach Hause. Nach einiger Zeit hörst du plötzlich ein neues Geräusch. Unidentifizierbar. Metallisch klackernd. Wiederkehrend. Ihr macht das Radio lauter. Problem gelöst.
NICHT! Der Wagen bleibt stehen und verweigert jeden Versuch, ihn wieder in Gang zu bringen. Da hilft nur noch der Anruf beim Göttergatten. Immerhin waren wir quasi auf der Zielgeraden, 10 Kilometer von zu Hause entfernt und nicht mehr auf der Autobahn.
Bewusste Ignoranz ist hier ein Soundfilter mit eingebauter Werkstattvermeidung.
Fitnessstudio? Ich bezahle also bin ich fit
Jeden Monat wird der Beitrag abgebucht. Immer! Und jedes Mal zuckst du kurz zusammen beim Blick aufs Konto: »Ach ja… Fitness.« Das letzte Mal warst du da… im Frühling. Letztes Jahr. Damals warst du hochmotiviert, hattest sogar ein neues Outufit gekauft, das selbstbewusst nach: Ich-mach-das-jetzt-regelmäßig-versprochen! aussah.

Heute liegt diese Hose ganz hinten im Schrank – direkt neben den Yogablocks, den pinken 1,5-Kilo Hanteln und deinem Selbstrespekt. Aber kündigen? Nein! Denn dann müsstest du dir eingestehen, dass du längst kapituliert hast. Stattdessen behältst du das Abo wie ein Symbol der Hoffnung.
Bewusste Ignoranz mit Kreditkartenbindung – klingt nach Commitment. Ist aber einfach Verdrängung im Sportdress.
Gartenzeitschrift: 250 Seiten Hochglanz fürs Altpapier
Sie kommt. Jeden Monat. Dick, schwer, edel. Eine Zeitschrift über Zierhecken, Rhododendronpflege und saisonale Dekoideen aus Kaffeefiltern. Hässliche Figuren aus Tontöpfen mit Motiven für jede Jahreszeit und viiiel Werbung. Du wolltest sie schon lange kündigen. Ehrlich.
Aber immer, wenn sie im Briefkasten liegt, denkst du kurz: »Diesmal blättere ich sie wirklich durch.« Dann landet dieser Foliant ungelesen auf dem Couchtisch, später im Altpapier – mit maximal einem Blick auf das Cover.
Und immer sagst du: »Morgen ruf ich da an. Oder ich schreib eine Mail.« Aber »morgen« ist der Placebo-Ort, an dem gute Vorsätze sterben.
Bewusste Ignoranz mit grünem Daumen – zumindest auf dem Titelbild.
Fazit: Ich weiß, dass ich nichts wissen will – und das ist okay.
Manchmal ist bewusste Ignoranz kein Zeichen von Verdrängung, sondern von Überlebenskunst. Ein kleiner mentaler Regenschirm gegen den Dauerregen der Realität.
Nicht jede Information macht dich klüger. Manche machen dich nur müder, trauriger oder genervter. Und wenn du schon weißt, dass der Griff zur Wahrheit dir den Tag verdirbt – dann greif halt nicht hin.
Oder wie ein weiser Mensch (vielleicht war’s ich nach zwei Gläsern Wein) mal sagte: »Ich bin nicht naiv – ich bin selektiv informiert.«
Also: Bewusste Ignoranz hier bedeutet: Zeit gewinnen, Verantwortung vertagen, und vielleicht – ganz vielleicht – kommt irgendwann eine Phase namens »Nutzt ja nix, jetzt ist es soweit«. Bis dahin: Schütze deinen Seelenfrieden!

Hallo Kerstin,
Ein herrlicher Beitrag, das beschreibt sehr gut, warum mein lieber Mann mich oft als naiv betitelt. Ich merke mir dann mal das mit dem „selektiv informiert“, dass finde ich sehr gut.
Danke für die kurzweilige und wahre Unterhaltung!
Grüße aus Aurich
Antonia
Hallo Antonia,
wie schön, dass dir mein Beitrag gefallen hat! 😊
Sag deinem Mann einfach: Naiv ist nur, wer alles wissen will – du bist strategisch informiert! Und mal ehrlich: Ein bisschen selektive Ignoranz ist doch der einzige Grund, warum wir immer noch lächeln, wenn wir die Nachrichten einschalten. 😉
Herzliche Grüße aus Sielhorst (etwa der nördlichster Ort in NRW) in den hohen Norden nach Aurich,
Kerstin
Hallo liebe Kerstin!
Du hast mir gerade mit deinem Beitrag meine schlaflose Nacht versüsst. Die bewusste Ignoranz des Schlafes heißt übrigens Schlafprokrastination.
Danke bis zum nächsten Beitrag 😉
Hallo du Schlafprokrastinations-Expertin 😄!
Dann hat meine bewusste Ignoranz also erfolgreich deine unbewusste Ignoranz gegenüber dem Schlaf unterstützt. Vielen Dank, dass du die Nacht statt mit Schäfchenzählen mit meinem Beitrag verbracht hast. Nächstes Mal schreibe ich vielleicht über ‚bewusste Nickerchen‘ – als Ausgleich 😉